Das Markenzeichen von Markus Mirwald ist die Konstanz. Mit Zielstrebigkeit und Ausdauer treibt der in Vorarlberg geborene Aphoristiker seine 2017 begonnene Reihe „Wesentliches in wenigen Worten“ voran. Zum Jahresende 2022 ist mit „Der Klang des Ungesagten“ bereits der sechste Band erschienen.

Mirwald macht es seinen Lesern leicht, an seine Gedankenwelt anzudocken. Abstraktes Denken ist keine Voraussetzung, um seine Aphorismen verstehen zu können. Seine Sprache ist klar und eindeutig – weil der Aphoristiker nicht seine erstbesten Gedanken veröffentlicht, sondern seine Überlegungen so lange reifen lässt, bis er über deren Kern Klarheit erlangt hat. Um diese zu formulieren, benötigt er keine komplizierten Sätze.

Der Autor bedient sich in seinem neuen Band selten dem ebenso beliebten wie irritierenden „Stilmittel“ namens Pauschalisierung. Er stellt keine Behauptungen auf, die den Eindruck der Allgemeingültigkeit erwecken, keine Weltformeln, die sich bei näherer Betrachtung als ein Mangel an Selbstreflexion erweisen könnten. Das würde auch nicht zu ihm passen. Der Vorarlberger ist jemand, der andere durch seine Gedanken zum Nachdenken anstoßen und nicht durch moralische Belehrungen davon abhalten möchte. Dieser Verzicht auf Allgemeingültigkeit ist nicht nur menschlich sympathisch, weil damit das Erkennen der eigenen Begrenztheit verbunden ist. Es ist auch ein Verzicht auf Effekthascherei. Sein „Die Eitelkeit vermag unsere hässlichen Züge zum Vorschein zu bringen“ (#283) klingt sprachlich nicht so plakativ, wie es ein behauptendes „Die Eitelkeit bringt unsere hässlichsten Züge zum Vorschein“ vielleicht wäre. Es verschafft den Empfängern jedoch den Raum, selbst nachzuspüren, ob sie sich im Zitat erkennen oder nicht. Ganz auf Behauptungen verzichtet auch Mirwald nicht:

 

Wer für unliebsame Argumente unempfänglich ist,

bevorzugt, im liebgewonnenen Irrtum zu verharren. (#281)

 

Eine Beschreibung allzu menschlicher Eigenschaften, die bei mangelnder Selbsterkenntnis schon zu großen Menschheitskatastrophen geführt hat. Manches Zitat klingt beim Lesen so, als wäre der Inhalt durch die Zuweisung gegensätzlicher Worte entstanden:

 

Es ist erstaunlich leicht,

sich das Leben unglaublich schwer zu machen. (#262)

 

Hier kommt der „Klang des Ungesagten“ ins Spiel: Wie schwer es umgekehrt doch ist, Leichtigkeit in ein schweres Leben zu bringen, wenn die Fröhlichkeit nie auf dem Stundenplan stand. Der Buchtitel des sechsten Bandes ist deshalb klug gewählt. Mirwald erteilt keine Ratschläge, es sind Empfehlungen:

 

Was uns den Boden unter den Füßen wegzuziehen droht,

können wir auch zum Anlass nehmen,

über unseren Schatten zu springen. (#265)

 

Können: ja, müssen: nein. Für Risiken und Nebenwirkungen seiner Zitate wird Mirwald nicht haftbar gemacht werden können. Ein sprachliches Glanzstück ist folgender Aphorismus:

 

Wer sich allzu oft den Wünschen anderer beugt,

wird am Ende geknickt sein. (#276)

 

Es gibt nur ganz wenige Aphorismen, deren Botschaft weder klar noch eindeutig ist. Der Satz „Ein verheißungsvolles Flüstern vermag mehr zu bewirken als vollmundige Versprechungen“ (#287) lässt sich schwer einordnen in das Erleben der Welt. Bei „Manch ein Zufall erweist sich als Glücksfall“ (#266) ist die Aussage austauschbar: Der Aphorismus würde auch mit dem Wort Unglücksfall funktionieren. Sympathisch dennoch: Im Zweifelsfall entscheidet sich Mirwald für das Weiterführende und drückt diese Einstellung auch im Aphorismus Nummer 256 aus:

 

Manchen dämmert es schon,

während andere noch schwarzsehen:

Eine negative Weltsicht mindert unsere Chancen,

Positives zu bewirken.

 

Mirwald ist ein feiner Alltagsbeobachter, der selten durch die Verwendung von „wir“ oder „uns“ den Leser vereinnahmt. Die in bislang sechs Bänden erschienenen 300 Aphorismen deuten jedenfalls nicht auf Verstrickungsabsichten zwischen Autor und Leser hin. Er will nicht manipulieren, versucht stattdessen, das Gemeinsame herauszuarbeiten, in der Hoffnung, damit den Leserinnen und Lesern eine Weiterentwicklung zu ermöglichen. „Ich schreibe für die Zukunft und nicht für die Leser“, sagt er im Gespräch über sich selbst.

Es ist der Klang des Ungesagten, der die Aphorismen von Markus Mirwald liebenswürdig macht. Das Gesagte kennt der Leser, das Ungesagte entsteht beim Verdauen und Nachdenken in der persönlichen Erlebniswelt. Wer sich die Zeit dafür nimmt, in dem wird der sechste Band nachklingen – oder, schöner noch, nachhallen:

 

Die Sehnsucht nach dem Ungeahnten

ist die schönste Voraussetzung

für den Aufbruch ins Ungewisse. (#251)

 

Thomas Bäder

Quelle:

www.dapha.de