„Was wir für wahr erachten,

ist nichts weiter als ein Abbild der Realität

im Spiegel unserer Wahrnehmung.“

 

Eigentlich lese ich ja vorwiegend Romane, manchmal aber auch Gedichte und ganz selten Aphorismen. Als ich auf Markus Mirwalds Aphorismen-Sammlung „Der vielleicht größte Schatz“ aufmerksam gemacht wurde, war ich zunächst vor allem von der Optik angetan. Im ungewöhnlichen A5-Querformat mit stabilem Hardcover und schöner Kalligrafie, die auf nüchterne Typografie trifft, war ich gespannt, ob der Inhalt des Buches genauso ansprechend ist wie seine Hülle.

Ein Aphorismus ist ein Gedanke, der in einem einzelnen Satz formuliert wird und für sich allein steht. Oft hat er die Form einer Lebensweisheit, was für mich den besonderen Reiz dieser Gattung ausmacht. Aber kann man tatsächlich knapp 100 Seiten mit solchen prägnanten Sätzen verfassen? Markus Mirwald beweist, dass man das sehr wohl kann. Die konträre Form des Covers beibehaltend, sind seine Aphorismen in seiner eigenen wirklich ansprechenden Handschrift sowie darunter in herkömmlicher Typografie dargestellt. So ist das Durchblättern dieses Buches schon ein visuelles Vergnügen. Aber ist es auch ein inhaltliches Vergnügen, wie es der Titel verspricht?

Mirwalds Aphorismen drehen sich – wie er selbst schreibt – um das Wesentliche. Und das stimmt. Ich hatte befürchtet, dass er vielleicht einen belehrenden oder besserwisserischen Ton anschlägt, aber bereits nach den ersten 10 Seiten konnte ich meine Befürchtungen begraben. Sein Ton ist im Gegenteil sehr neutral. Seine Gedanken sind tatsächlich oft allgemeingültig, manchmal aber auch nicht und stattdessen diskussionswürdig. Aber gerade das macht diese Sammlung so interessant. Zwei, drei Aphorismen waren für meinen Geschmack zu platt, allerdings ist das wirklich meckern auf hohem Niveau. Auch bei einer Gedicht- oder Kurzgeschichtensammlung gefällt einem nie alles gleich gut. In dieser Hinsicht hält Mirwald in seinem ersten Band der „Wesentliches in wenigen Worten“-Reihe ein konstant hohes Niveau.

Ich habe wirklich lange in diesem Buch gelesen, weil ich mir für jeden Aphorismus Zeit nehmen wollte. Mirwalds Formulierungen sind lebensbejahend: Sie regen an, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen und Dinge zu hinterfragen. Dafür braucht man Zeit, Geduld und auch den Willen dazu, diese Aphorismen in sich wirken zu lassen, sonst verpufft deren Wirkung völlig. Dieses Buch ist also eine sehr gelungene Entschleunigungstherapie, die für mich genau zur richtigen Zeit kam. Mit Aphorismen wie „Perfektionismus ist die Neigung durch den Fokus auf Details das Wesentliche aus den Augen zu verlieren.“ bringt der Autor nicht nur Allgemeingültiges mit einer beeindruckenden Präzision auf den Punkt, sondern ihm gelingt es auch die nicht ganz so offensichtlichen Dinge des Lebens in den Fokus des Lesers zu rücken:

 

„Wir pflegen fast jede unserer Fähigkeiten zu unterschätzen –

vor allem aber jene zur Selbsttäuschung.“

 

Dies ist kein Buch, das man „verschlingt“, sondern eines für das man in der entsprechenden Stimmung sein muss, das man langsam entdeckt und die wenigen Worte durchdenkt und genießt. Gerade in der heutigen Zeit, in der so Vieles so schnell konsumiert wird, ist dieses Buch tatsächlich ein großer Schatz, der den Leser zwingt, seine Komfortzone zu verlassen, was genau das ist, was Mirwald auch oft in seinen Aphorismen anregt. Allein für den Mut in Eigenregie ein so hochwertiges Buch mit Aphorismen zu verlegen, die sich (leider!) mit Sicherheit nicht so gut verkaufen werden wie ein Sebastian Fitzek-Thriller, gebührt dem Autor meine Hochachtung. Ich würde mir wünschen, dass dieses kleine, feine Buch noch viele Leser findet und entgegen meiner Prognose irgendwann neben dem Fitzek im Beststeller-Regal steht.

 

Evelyn Meyer